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"Runder Tisch von unten", Demonstration, Ost-Berlin, 4. November 1990: Demonstration "Runder Tisch von unten" [2/5]

INFORMATIONEN ZUM OBJEKT

Details

4. November 1990
Berlin, Alexanderplatz
Urheber: Jürgen Nagel

Lizenztyp: Keine Creative Commons

"Der Runde Tisch [war] Ort des Dialogs zwischen neuen und alten politischen Kräften in der DDR" (Robert-Havemann-Gesellschaft e.V.: Runder Tisch, Stand 23. April 2009)

Abgebildet

Demonstration, Fernsehkamera, Fernsehteam, Fotograf, Kamera, Mehrere Personen, Mikrofon, Rede, Älterer Mensch

Kontext

Deutsche Wiedervereinigung, Exil, Flucht, Kritik, Medien, Nationalfeiertag

Personen/Organisationen

Käthe Reichel, Ullmann, Wolfgang

Orte

Alexanderplatz

Alle Bilder des Albums

Erinnerung

"31. August 1990, 13 Uhr 42

Ohne mein Land zu verlassen wandre ich aus; ich mache nicht einen einzigen Schritt, sitze statt dessen in den Kellerräumen meiner frostgelagerten Erfahrungsmuster, in denen alle vertanen Möglichkeiten konserviert werden – die oben im Glanz der Berichterstattung weggewischt werden nach Saubermann-Art. Dort oben wird meine rosige Zukunft besiegelt, eingepackt in tausend Seiten zwischen dunkelblauem Leder mit den Insignien einstiger und künftiger Macht.

Dreiunddreißig Tage hat sie noch Zeit zu trocknen, die zu eilig hingeworfene Tinte. Und die Bilder dieses Vorgangs werden um die noch immer geteilte Welt gehen und archiviert werden als historisches Faktum von übernationaler Bedeutung – jährlich abrufbereit als schwarzrotgoldenes Zitat an einem neuen Nationalfeiertag. Was sage ich einst meinem Enkel, wenn er mich fragt nach diesen Tagen?

Wahrscheinlich werde ich sagen: ein Land ist über mich gekommen mit den farblosen Sonntagsreden einer Chromstahlwalze – während ich träumte von alternativem Grün und jede machbare Möglichkeit also verschenkte.

Und auf das Sektgelage der alten und neuen Anzugmenschen dort oben antworte ich heute mit einem kräftigen Schluck aus abgestandener Seltersflasche, für die ich gezahltes Pfand nicht mehr erstattet bekomme – Produkt eines Landes, das es nicht mehr gibt und das ich gezwungen bin, als Heimat zu bezeichnen, obwohl es das bis heute nicht war.

So feiere ich denn den plötzlichen Anschluss und läute ganz unfeierlich ein: mein neues Exil und meine Zukunft."

(Aus der Sammlung „Das Mauer-Syndrom“ mit Kurzprosa aus den Jahren 1961 bis 1990)

Jürgen Nagel (Ost-Berlin)