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Eindrücke aus dem Frühjahr 1990: Verfallender Eingangsbereich [14/40]

INFORMATIONEN ZUM OBJEKT

Details

4. Februar 1990
Berlin
Urheber: Michael Westdickenberg

Lizenztyp: Keine Creative Commons

Abgebildet

Baufälligkeit, Schild (Zeichen)

Kontext

Baufälligkeit, Bürgerbewegung, Coca-Cola, Deutsche Mark, Deutsche Wiedervereinigung, Freund, Meinungsfreiheit, Plattenbau, Rechtsextremismus, Reise, Soziale Marktwirtschaft, Umweltzerstörung, Vertragsarbeiter, Volkskammerwahl, Wahlkampf, Wir sind ein Volk!

Orte

Andere Orte (Berlin), Dessau-Roßlau, Halle (Saale), Leipzig, unbekannt (Straße)

Text im Bild

Vorsicht! Ausfahrt! [2x]

12

Ausfahrt / freihalten!

Zentrales Warenkontor / für Haushaltwaren

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Erinnerung

"Im Februar 1990 besuchten wir eine Freundin in West-Berlin. Der Besuch nahm einen überraschenden Verlauf, da wir im Westen der Stadt fast nur geschlafen haben und jeden Tag in den Ostteil gefahren sind. Es war die Zeit der schnellen politischen und gesellschaftlichen Veränderungen, das Machtvakuum in der noch existierenden DDR war regelrecht spürbar. Es war für mich als Westdeutscher ohne Verwandte in der DDR die erste Möglichkeit, dieses Land ohne Beschränkungen bereisen zu können. Da wir gerade Semesterferien hatten, beschloss ich, zwei Wochen durch die DDR zu fahren und meine Eindrücke fotografisch festzuhalten. Damit begann ein Fotoprojekt, das ich bis heute weiterverfolge.

Meine Eindrücke habe ich so festgehalten, als wollte ich guten Freunden in weit entfernten Teilen der Welt bildhaft erzählen, was ich vorgefunden habe. Natürlich ist mir immer klar gewesen, dass ich eine subjektive Sichtweise habe, was sich schon allein durch die Auswahl der Motive ausdrückt. Gleichzeitig aber sollten die Bilder einem dokumentarischen Anspruch gerecht werden.

Das Thema, was sich mir zuerst aufdrängte, war der schockierende Zustand der Altbausubstanz. In Halle hieß es damals, dass jeden Tag eine Wohnung durch den Verfall verloren gehe. Der Vorsatz 'Unser Leben erhalten und es schöner gestalten' galt offenbar nicht für die alten Häuser. 'Hier wird noch gewohnt', stand auf einer Eingangstür in Halle, vermutlich, damit Besucher sich nicht abschrecken ließen. In Dessau kamen Bewohner eines Hauses zu mir auf den Bürgersteig herunter und erzählten, dass sie bereits zwei Umzüge von jeweils höheren Stockwerken in niedere hinter sich hätten, um der durch das Dach eindringenden Feuchtigkeit zu entgehen.

Das städtebauliche Kontrastprogramm zu den vernachlässigten Altbauten war der industrielle Wohnungsbau in Plattenbauweise. Die Wohnungen in diesen Großsiedlungen waren in der DDR beliebt, da sie im Gegensatz zu vielen Altbauten über Zentralheizung, fließend warmes Wasser, eine Badewanne und Innentoilette verfügten. Die Plattenbauten waren auch nicht düster, wegen ihrer Einförmigkeit aber nicht weniger trist. Sie wurden in der DDR gelegentlich als 'Arbeiterschließfächer' verspottet.

Manchmal ergaben sich reizvolle Kontraste zwischen grellbunten Autos und der einheitlich graubraunen Häuserumgebung. Ich meinte, bei vielen DDR-Bürgern eine Begierde nach expressiver Farbigkeit entdeckt zu haben, die ich als Reaktion auf diese Wohnumgebung deuten würde. Ost und West waren hier völlig gegenläufig, da in Westdeutschland gerade gedeckte Farben modern waren.

Aber die einheitlich beige-braunen Fassaden kleiner Städte und Dörfer konnten auch etwas ganz anderes ausstrahlen, vor allem wenn sie von warmer Nachmittagssonne beschienen waren: Eine Gemütlichkeit, die ein eigenes Zeitverständnis auszudrücken schien, so als ob das Land sich jeglichem Druck und allen vermeintlichen Notwendigkeiten widersetzen und in dieser Welt außer Konkurrenz mitlaufen würde.

Die dunklen Fassaden verweisen noch auf ein anderes Problem: Die Belastung der Luft durch Braunkohleemissionen und durch die Abgase aus den Zweitaktermotoren der Autos und Motorräder. In der Heizperiode habe ich keinen Ort erlebt, an dem diese Gerüche nicht in der Luft lagen – bis in das kleinste Dorf hinein. Besonders schlimm war die Umweltverschmutzung in der Umgebung des Buna-Werkes bei Halle. Wie mir Arbeiter erzählten, fiel eine Ampelanlage direkt neben dem Werk regelmäßig aus, weil sie sich mit Karbidstaub zusetzte.

Anfangs interessierte mich dieses unbekannte Nachbarland im unveränderten Zustand. Schon bald aber wurde mir klar, dass zu diesem Themenkomplex des DDR-typischen ein neuer hinzutreten müsste: Die Veränderungen, die sich durch die offene Grenze, den Sturz der SED, die heraufziehende Marktwirtschaft und politische Einflüsse aus dem Westen ergaben. Die Volkskammerwahlen vom 18. März 1990, die ersten freien und geheimen gesamtstaatlichen Wahlen im östlichen Deutschland seit dem 6. November 1932, bildeten den Abschluss meiner ersten längeren Fahrt durch die DDR, die Wochen vorher waren durch den Wahlkampf geprägt. Deutschlandfahnen galten als Bekenntnis für die Vereinigung mit der Bundesrepublik, rote oder DDR-Fahnen für einen eigenständigen sozialistischen Weg der DDR, mit mehr oder weniger Nähe zum alten System. Der Betreiber einer Tankstelle in Dessau forderte die Einheit in der gleichen autoritären Weise, wie er seine Kunden zum Abstellen des Motors aufforderte. Überhaupt schienen mir autoritäre Verhaltensweisen im Alltagsleben der DDR stärker überdauert zu haben als in der damaligen Bundesrepublik. Die 'Kölner Klagemauer', im März 1990 in Leipzig aufgebaut, mit auf Papptafeln artikulierten sozialen Protesten und Wünschen, repräsentierte für mich die Hoffnung auf ein zukünftiges Recht auf freie und ungefilterte Meinungsäußerung, nicht nur für die jeweils Mächtigen im Land.

Während des Wahlkampfes wurden die Zusammenschlüsse und Parteien der Bürgerbewegten, die die Entmachtung der SED initiiert hatten, immer mehr in den Hintergrund gedrängt zugunsten solcher Parteien, die aus Westdeutschland unterstützt wurden. 'Wir wollen alles so haben wie in der BRD', war ein vielfach artikulierter Wunsch. In der letzten Phase der Montagsdemonstrationen war die Parole 'Wir sind das Volk' zunehmend durch 'Wir sind ein Volk' abgelöst worden. Die Betonung der nationalen Zusammengehörigkeit sowie deutscher und regionaler Traditionen, unter völliger Umgehung der DDR-Zeit, scheint mir eine der bestimmenden kulturellen Hauptströmungen der folgenden Jahre gewesen zu sein. In diesem Fahrwasser gab es eine Kräftigung nationalistischer, rassistischer und sozialdarwinistischer Stimmungen, die sich in einem bis dahin ungekannten Ausmaß gegen Vertragsarbeiter aus Angola, Mosambik und Vietnam richtete, gegen Asylbewerber, Sinti und Roma, türkische Imbissbudenbetreiber, generell Menschen mit dunkler Hautfarbe, politisch Linksgerichtete und Obdachlose.

Zu einer weiteren Hauptströmung entwickelte sich die Orientierung an den USA, was aber 1989/90 nur in Ansätzen auszumachen war.

Als Pioniere der Marktwirtschaft boten fliegende Händler aus westlichen Ländern auf Märkten für D-Mark Obst an oder Billigprodukte – die Menschen verfügten noch über sehr wenig Geld in dieser Währung, die Mark der DDR war noch bis zum 30. Juni 1990 in Umlauf. Die Plastikuhren eines Händlers aus den Niederlanden auf dem Marktplatz von Leipzig für weniger als zehn D-Mark waren für die Menschen eine solche Attraktion, dass sie von mir als Fotografen keine Notiz nahmen. Angesichts des zu erwartenden Siegeszuges der Marktwirtschaft veranstaltete die PDS in Dessau eine Diskussionsrunde zu diesem Thema, mit einem Referenten vom dortigen Institut für Impfstoffe – als wollte man damit ausdrücken, dass es sich bei der Marktwirtschaft um eine Seuche handele. Bei auffallend vielen der Autos, die im Frühjahr 1990 in der DDR unterwegs waren, handelte es sich um große Limousinen. Für westliche Firmen galt, möglichst frühzeitig die Claims abzustecken, um bei der Aufteilung des zukünftigen Marktes nicht zu spät zu kommen. Es dauerte auch nicht mehr lange, bis die Insignien solcher Firmen, die traditionell als Symbole des westlichen Kapitalismus angesehen werden, ihre ersten Repräsentanzen im Osten geschaffen hatten. Für jemanden, der in einer westlichen Gesellschaft aufgewachsen war, besaß es nichts Aufregendes, an einem Automaten eine Dose Cola zu ziehen. In Leipzig war 1990 allein schon ein solcher Automat eine Sensation. Ich lernte, die mir vertrauten Symbole mit den Augen eines DDR-Bürgers zu betrachten. Bei der auf einer Straße in Wittenberge liegenden zerbeulten Coca-Cola-Dose handelte es sich so gesehen nicht um die gleiche Dose, die zur selben Zeit vielleicht in Hamburg oder in Dortmund gelegen haben mag."

Michael Westdickenberg


Michael Westdickenberg führt sein Projekt "Fotos aus der DDR/ den östlichen Bundesländern" bis heute weiter.

Original-Bildunterschrift

"Zentrales (sic, M. W.) Warenkontor für Haushaltswaren"