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Auf der Mauer am Brandenburger Tor, 10. November 1989: Grenzsoldaten [3/6]

INFORMATIONEN ZUM OBJEKT

Details

10. November 1989
Berlin, Brandenburger Tor
Urheber: Hartmut Kieselbach

Lizenztyp: Creative Commons License

Blick von der Mauer auf Grenzsoldaten in der Nähe des Brandenburger Tors, auf dem Boden ein Grenzwarnschild

Abgebildet

Grenzschild, Grenzsoldat, Mauergraffiti, Mehrere Personen, Nacht

Kontext

Berliner Mauer, Familie, Freude, Leiter (Gerät), Mauerfall, Mauerkrone, Menschenmenge, Musik, Volkspolizist, Übertragungswagen

Orte

Brandenburger Tor

Text im Bild

Achtung! / Sie verlassen / jetzt / West Berlin

once

wie denn

Alle Bilder des Albums

Erinnerung

"In den letzten Tagen war das Radio während des gesamten Tages nicht mehr wegzudenken gewesen. Ständig achtete ich auf neue Nachrichten, lauschte den Interviews und Kommentaren, die aus dem Lautsprecher drangen, und selbst am Arbeitsplatz war es in fast jeder Pause unter den Kollegen Thema gewesen: der Sturz der Berliner Mauer. Das Bollwerk zwischen West und Ost, der Eiserne Vorhang - von den einen als Schutzwall erbaut, von den anderen als Mauer gegen die Menschlichkeit geächtet. Dieses Ding hatte seine Bedrohung verloren und es schien nur noch eine kurze Frage der Zeit zu sein, wann es ganz fallen würde. Diese Vorstellung erzeugte in mir ein angenehmes, fiebriges Gefühl.

Meine Frau und ich wollten am Abend mit den Kindern zur Mauer am Brandenburger Tor. Normalerweise hätten wir die Fahrräder genommen (jeder einen Sohn im Kindersitz), aber irgendwie hatten wir eine Vorahnung und beschlossen, zu Fuß zu gehen. Zwei Ecken weiter, am Nollendorfplatz, sahen wir uns in unserer Wahl bestätigt: Hunderte von Menschen hatten die gleiche Entscheidung getroffen, wanderten in dichten Gruppen auf den Gehwegen und der Straße in Richtung Tiergarten - und aus den Seitenstraßen kamen immer mehr Menschen hinzu.

Um uns herum schwirrten Wortfetzen, es wurde gealbert und gelacht. Alle schienen von einer angenehmen kribbeligen Spannung erfasst zu sein. Auch die Söhne an unseren Händen liefen brav nebenher (ohne ihr sonstiges Quengeln) und schauten aufmerksam herum. Wir kürzten ab und gingen mit vielen anderen schräg durch den grünen Tiergarten bis zur Straße des 17. Juni, die an der Mauer vor dem Brandenburger Tor endet. Von weitem sah man schon eine zweite Mauer aus Menschen - nicht einmal ein Fahrrad hätte in die Lücken zwischen ihnen gepasst. Und weiter vor der Mauer sah man Wagendächer bestückt mit Lautsprechern, die mit dröhnendem Schlagersound die abertausenden Stimmen übertönten. Da waren Fahrzeuge mit Funkschüsseln, Antennen, Kameras auf Plattformen und andere mit dutzenden von Scheinwerfern, die über alles ein grelles weißes Licht gossen. In dem Gewühle vor der im Halbrund verlaufenden Mauer hoben wir die Kinder auf unsere Schultern und schoben uns dann zwischen den Leibern hindurch.

Oben auf der Mauer standen die Menschen dicht bei dicht, zeigten herab, rauchten, lachten, stupsten sich vergnügt, während wir sehnsüchtig zu ihnen hochschauten. Alle paar Meter wollten sich Leute nach oben ziehen lassen, und wenn es nicht gelang, plumpsten sie wie Fallobst zurück in die Menge. Links von uns, an die Mauer gelehnt, entdeckte ich eine wenig einladende halbhohe Sprossenleiter. Ich drängelte mich dort hin und schaffte es hinauf zu kommen. Hier oben standen wir so dicht beieinander wie am Feierabend in der U-Bahn, wenn vorher schon zwei Züge ausgefallen waren. Zu meiner Überraschung war die Mauer gute zwei Meter breit und das Gedränge gewaltig. Unseren älteren Sohn konnte ich auch noch über diese „Hühnerleiter“ hochhieven. Und nun schauten auch wir auf die grell bestrahlten und schrill beschallten Menschenmassen.

Doch was war hinter der Mauer? Finsternis. Etwa hundert Meter entfernt sah ich die mächtigen Umrisse des Brandenburger Tors. Und als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, bemerkte ich auch die Vopos [Volkspolizisten] in ihren dunkelgrünen Uniformen. Wie Wachsfiguren standen sie bewegungslos im Abstand von zwei Armeslängen entlang der Mauer und schienen uns zu beobachten. Welch ein Kontrast.

Und dann fiel mir auf einmal ein, was ich noch vor nicht allzu langer Zeit meinen Söhnen prophezeit hatte: 'Ich werde den Fall der Mauer nicht mehr erleben, ihr bestimmt noch – aber da seid ihr wahrscheinlich schon fünfzig.'"

Hartmut Kieselbach