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Mauerspechte: Mauerspechte im ehemaligen Grenzstreifen [13/14]

INFORMATIONEN ZUM OBJEKT

Details

1990
Berlin, Fritz-Heckert-Straße, heute Engeldamm/Adalbertstraße
Urheber: Jean Pichard

Lizenztyp: Keine Creative Commons

Mauerspechte im ehemaligen Grenzstreifen, links die Hinterlandmauer, rechts die Ostseite der Berliner Mauer

Abgebildet

Berliner Mauer (Ost), Fahrrad, Grenzstreifen, Hinterlandmauer, Mauergraffiti, Mauerrest, Mauerspecht (Person), Mehrere Personen, Stahleinlage, Werkzeug

Kontext

Gedenkstätte, Jugendlicher, Mauerabbau, Mauergraffiti, Mauerspecht (Person), Mauerstück, Souvenirhandel, Todesopfer, Tourist, Volkspolizist, Werkzeug

Orte

Bethaniendamm

Text im Bild

GZ / 90

Alle Bilder des Albums

Erinnerung

"Unmittelbar nach dem Fall der Mauer haben sich einige, dann mehr und mehr Menschen, daran gemacht die Mauer zu zerstückeln. Tag und Nacht hörte man das Hämmern gegen den Beton. Jeder wollte sich ein Stück Erinnerung sichern. Besonders begehrt war die bemalte Seite der Mauer im Westen. Nach und nach, Schicht für Schicht, verschwand die unendlich lange bunte Wandmalerei mit den vielen Sprüchen und den vielen "tags". Kaum, dass die Oberfläche abgeschabt war, wurden neue Texte, neue Bilder auf den blanken Beton gesprüht. Der Beton war hart, die Werkzeuge zu seiner Bearbeitung meistens bescheiden und schwach. Dennoch wurde die Mauer immer dünner, poröser; besonders an den Nähten zwischen den Segmenten: Da konnte man bald durchgucken. Die Stahlstangen kamen zum Vorschein, das Gerippe der Mauer wurde zur vergitterten Öffnung. Mit Stahlplatten versuchten die Vopos die entstandenen Lücken zu schließen: Eine undichte Grenze ist keine Grenze mehr.

Die ersten Touristen waren schon da, Schaulustige und Zeugen aus aller Welt, auch und besonders aus dem Osten. Für sie war die Mauer zum ersten Mal zum Anfassen da, zum ersten Mal von der anderen Seite zu sehen.

Die harte Arbeit der Mauerspechte hatte jetzt ihren Preis: Vor Ort konnte man gegen eine Gebühr Geräte ausleihen, Meißel, Eisenstangen, Brecheisen, sogar Presslufthammer. Das Abbruchunternehmen wurde zum öffentlichen Happening, zum politischen Akt, zum Symbol des Aufbruchs in eine neue Zeit. Lange bevor die Behörden beschlossen, die Mauer abzureißen, hatte durch Tausende die Zerstörungsarbeit begonnen: Bald traute sich das jeder zu, jeder wurde nun zum kleinen Helden.

Für die Schüchternen, für die Ungeduldigen, für die Kraftlosen wurden auf Tapeziertischen die Souvenirs und Relikte, die Chapkas und Orden, ausgebreitet; zusammen mit einer immer größeren Auswahl an Mauersplittern in allen Größen und Farben, einfache ebenso wie künstlerisch gestaltete; manche auf Sockeln mit Stacheldraht und roter Lackfarbe, andere in durchsichtigem Acryl eingegossen, mit gestempelten offiziellen Siegeln.

Stück für Stück wanderte die Mauer aus der Stadt hinaus: nach Europa, in die ganze Welt. Als Mitbringsel, als Geschenk, als Erinnerung. Sie kam in alle möglichen Haushalte, in die verschiedensten Kulturen, gelangte auf Kamine und in Glasvitrinen. Manchmal wurde sie in irgendeiner Schublade oder Schatulle versteckt. Die Frage „was soll ich Dir aus Berlin mitbringen“ hatte sich erübrigt, der Handel blühte. Zwischen 1,- und 10.- DM kostete jetzt das Stück. Mit Garantie versteht sich: Das begehrte Gestein, der Betonbruch durfte nur aus dieser Mauer kommen. Es wurde am laufenden Band nachgeliefert und so kam es sogar soweit, dass türkische Jugendliche aus Kreuzberg mit Geschick und Fleiß, die Spraydose in der Hand, systematisch bunte Quadrate auf die blanke Ostseite der Mauer sprühten und mit Brecheisen die Eisenstangen des Stahlbetons so spannten, dass ganze Brocken absprangen. Zuweilen forderte ein Vopo seinen Zehnten und ließ ein Stück Berliner Mauer unter seiner Uniformjacke verschwinden. Das geschah wie selbstverständlich, ohne Widerspruch: Noch gehörte die Mauer ja offiziell dem DDR-Staat und damit auch seiner Armee!

Ich habe das alles fotografiert. Es war interessant zu beobachten und mitzuerleben, wie schnell die Menschen reagierten, sich umstellten und auch hemmungslos wurden. Darin lag weder ein Racheakt, noch eine Trotzreaktion; es war plötzlich schlicht normal, dass man auch damit Geld verdienen konnte. Ab und an frage ich mich noch, was aus allen diesen Mauerstücken wohl geworden ist und ob auch heute noch ein Reiz von ihrer damaligen Symbolik ausgeht!

Als ich Jahre später die Mauertrasse entlang wanderte, habe ich in der Nähe von Berlin-Lichterfelde im Gras einen Gedenkstein entdeckt mit einem Namen und der Inschrift 1975-1991. Als die Wende schon Geschichte war, wurde an dieser Stelle scheinbar ein junger Mauerspecht erschlagen, als der obere Teil der Mauer, der nur noch von ein paar Eisenstangen gestützt und getragen wurde, auf ihn herabstürzte."

Jean Pichard